B. Ruckstuhl u.a.: Von der Seuchenpolizei zu Public Health.

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Titel
Von der Seuchenpolizei zu Public Health. Öffentliche Gesundheit in der Schweiz seit 1750


Autor(en)
Ruckstuhl, Brigitte; Ryter, Elisabeth
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
334 S.
von
Sabina Roth

Wer sich zur Entwicklung der öffentlichen Gesundheit in der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart eine erste Orientierung verschaffen will, wird diese gut lesbare Darstellung mit Gewinn zur Hand nehmen. Sie bietet ein reich bebildertes und mit kurzen Personenportraits versehenes Panorama über Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. Aktuell suchen Forschende vieler Disziplinen nach bestimmendem Einfluss auf dieses Gebiet und seine Abgrenzung zur kurativen Medizin. Eine grosse Zahl von Berufen handelt darin überdies die Zusammenarbeit und ihre hierarchischen Positionen untereinander aus. Internationale Organisationen, staatliche Behörden und zivilgesellschaftliche Institutionen treten als Akteure auf, wirtschaftliche und politische Interessen konkurrieren. Die Historikerin Brigitte Ruckstuhl und die Sozialwissenschafterin Elisabeth Ryter wollen in ihrem Buch öffentliche Gesundheit als Kontinuum in der Geschichte der Schweiz darstellen und sie als «Politik- und Handlungsfeld gegenständlicher und fassbarer» werden lassen (S. 11). Dafür haben sie hauptsächlich Sekundärliteratur verarbeitet, was ein ausführlicher Anmerkungs- und bibliographischer Apparat belegt. Ihre chronologische Darstellung ist in acht Kapitel gegliedert, die entweder auf ein phasenweise die öffentliche Gesundheit dominierendes Konzept oder auf die Aufgaben von Kantonen und Gemeinden respektive des Bundes ausgerichtet sind. Eine Einführung am Beginn und ein Fazit am Ende jedes Kapitels erleichtern die Leseorientierung erheblich.

Der bürgerliche Gesundheitsdiskurs, die «medizinische Policey» und die Pockenschutzimpfung im Ancien Régime setzen den Auftakt. Unter dem Titel «Hygienerevolution» — ein Begriff, den Beatrix Mesmer geprägt hat — wird die Gesundheit des Volkes als Transmissionsriemen für die Schaffung von Hygieneinstituten an den Universitäten, die Professionalisierung des Ärztestandes und die staatliche Regulierung der medizinischen Versorgung unter dessen Führung geschildert. Die beiden daran anschliessenden Kapitel beleuchten die Produktivität dieses hygienischen Programms ab dem mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts, das im Zeichen der Bakteriologie in Staat und Gesellschaft durchstartete. Die Kantone und Gemeinden führten die Assanierung des Trinkwassers, der Abwasser, der Abfälle oder des Bestattungswesens durch und etablierten die Bau- und Lebensmittelkontrolle sowie gesundheitliche Massnahmen in der Volksschule. Die Eidgenossenschaft erliess die schweizweit gültige Fabrik- und Epidemiegesetzgebung und führte das Alkoholmonopol des Bundes über Obst- und Kartoffelbrände sowie die Kranken- und Unfallversicherung ein. In den überblicksartigen Ausführungen wird mehrfach deutlich, dass das männliche Stimmvolk staatliche Obligatorien im Namen der Gesundheit ablehnte oder lediglich für die Unterschichten goutierte. Wie die sozialen Verhältnisse als Ursachen für Krankheit und Sterblichkeit ins Zentrum der öffentlichen Hygiene rückten verfolgt die Darstellung an der Bekämpfung der Tuberkulose, der Säuglingssterblichkeit und der Geschlechtskrankheiten in der Schweiz. Die Autorinnen streifen die Anfänge der Gesundheitsstatistik und die Konflikte zwischen medizinischer und moralischer Opportunität von kurativen respektive präventiven Strategien. Die Fülle der Gesundheitsprobleme, welche Ärzteschaft, Politiker, Verwaltungsbeamte, wirtschaftliche Interessenvertreter sowie Frauen und Männer in Vereinen und Gesellschaften in den Fokus nahmen, wuchs bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich an. Am Beispiel der Tuberkulose lässt sich das zeittypische gesellschaftliche Handlungsmuster unter den damaligen Leitbegriffen der Volksgesundheit und Volkswohlfahrt erkennen: in Public Private Partnership entstand ein therapeutisches wie auch ein präventives Netz, das Heilstätten und Fürsorgestellen, Spendenaktionen und Subventionsprogramme, Verbote, Angebote und Anordnungen zur gesundheitlichen Vorsorge ebenso wie Kur-, Kontrollund Zwangsmassnahmen ineinander verwob. Dieses richtete sich nicht nur an die krankheitsbetroffenen Individuen, ihre Angehörigen und einzelne als besonders gefährdet geltende soziale Gruppen, sondern an die gesamte Gesellschaft.

Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet ein Kapitel die «therapeutische Revolution» (S. 178) nach, in deren Folge der kontinuierliche Ausbau der medizinischtechnischen Krankenversorgung Anliegen der Hygiene im öffentlichen Gesundheitswesen überlagerte. Gleichzeitig erbrachten die Gesundheitsligen als nicht-gouvernementale Organisationen mehr professionelle Dienste, teilweise im Auftrag der öffentlichen Hand. Ausgerichtet auf spezifische Krankheitsgruppen (Lungen-, Rheumaliga etc.) vereinigten sie unter ihrem Dach Forschungsförderung, schweizweite Vorsorge- und Früherkennungskampagnen sowie lokale soziale Beratung. Mit dem Ende der Trente Glorieuses stieg in der Schweiz der Einfluss der Gesundheitsökonomie und der gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsplanung. Das Kapitel zu Sozial- und Präventivmedizin und New Public Health verfolgt, wie sich die öffentliche Gesundheit mit dem Denkmodell der Risikofaktoren veränderte, jenen Elementen wie etwa Rauchen oder Bluthochdruck, welche die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten beeinflussen. Erneut wurden dadurch individuelles Verhalten und soziale Lebens- und Arbeitsumstände problematisiert. Neue Bildungs-, Forschungs- und medizinische Institutionen wurden geschaffen, die auf hronische Leiden, Drogenprobleme und auf die neue Infektionskrankheit Aids ausgerichtet waren. New Public Health verstand in Anlehnung an die Ottawa-Charta der WHO von 1986 Gesundheit als Querschnittsaufgabe aller Politik- und Gesellschaftsfelder. Der Lebensweltenansatz der Charta und ihre Prinzipien – Partizipation, Empowerment und Chancengleichheit (S. 240) – lenkten den Fokus hin zu den gesundheitlichen Ressourcen von Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen. Die Einflüsse von Genetik und Genomik sowie der Digitalisierung auf die zukünftige öffentliche Gesundheit werden im letzten Kapitel diskutiert.

Das entscheidende Charakteristikum in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit erkennen die Autorinnen in der Medikalisierung, mithin in dem durch Experten gesteuerten Prozess, «der immer mehr Lebensbereiche in die medizinische Deutungshoheit integrierte» (S. 11). Unter dieser Prämisse haben sie weitgehend eine Geschichte der öffentlichen Gesundheit ‘von oben’ geschrieben, auch wenn sie einzelne Passagen medizinkritischen und anderen sozialen Bewegungen gewidmet haben. Noch stärker als ‘von oben’ ist die Darstellung ‘im Innern’ der öffentlichen Gesundheit angesiedelt. Die beiden Autorinnen sind durch ihre langjährige Tätigkeit mit den Public-Health-Institutionen in der Schweiz vertraut und sie verdanken (S. 15) diesem Netzwerk vielfältigen Rückhalt für ihr historisches Projekt. Die Logik des Buches akzentuiert die Errungenschaften, Leistungen und Reformen auf diesem Gebiet. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Befunde der historischen Forschung zu kritischen Aspekten von Krankheitsprävention und Gesundheitspflege nicht berücksichtigt wurden. Namentlich werden die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen nicht thematisiert und die Eugenik nur kurz im Zusammenhang mit Bunges und Forels Argumenten zur Bekämpfung des Alkoholismus gestreift (S. 126 f.). Themen der psychischen Gesundheitspflege jenseits der Suchtprobleme und den Anfängen der Sozialpsychiatrie fehlen gänzlich. In einem Land, das in Europa eine überdurchschnittlich hohe Suizidrate aufweist, wäre eine Darstellung zur Entwicklung der Suizidprävention ebenso relevant wie jene der Unfallverhütung und Kariesprophylaxe. Dies sollte jedoch weder Berufsleute aus dem Public-Health-Kontext noch mit dem Gebiet unvertraute Historiker/innen von der Lektüre des Buches abhalten, um aus den vorhandenen wie auch aus den fehlenden Aspekten eigene Einsichten zu gewinnen.

Zitierweise:
Sabina Roth: Brigitte Ruckstuhl, Elisabeth Ryter: Von der Seuchenpolizei zu Public Health. Öffentliche Gesundheit in der Schweiz seit 1750, Zürich: Chronos, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 462-464

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 462-464

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